Aspekte der visuellen Wahrnehmung

Wahrnehmung

 

Gestaltung

Gesichtsfeld

 
 

Wir sehen mit zwei Augen, die nebenander liegen.
Unser Gesichtsfeld erfasst in der horizontalen Ausrichtung ca. 180°, in der vertikalen nur ca. 120°; wir sehen also immer im Querformat, und zwar im Seitenverhältnis von ca. 3:2.

 

 

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Medien werden von Querformaten dominiert, was sich auch in den technischen Rahmenbedingungen niederschlägt (z.B. Projektor, Kamera, Fernsehgerät, Computerbildschirm). Das sind aber nur die Rahmenbedingungen, deren Existenz man sich bewusst sein muss, deren Spielraum man dennoch kreativ ausloten sollte.

 

Raum und Tiefe

 
 

Auf unserer Netzhaut wird die dreidimensionale Welt zweidimensional abgebildet. Dennoch entwickeln wir eine plastische Vorstellung von den Dingen. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle:

 

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Sowohl in der bildhaften als auch in der abstrakten Gestaltung spielen Raum und Perspektive eine wichtige Rolle zur selektiven Steuerung der Aufmerksamkeit. Die Vielschichtigkeit unserer natürlichen Raumerfahrung gibt uns wertvolle Hinweise:

Die frontale Platzierung unserer Augen bedingt ein relativ kleines Gesichtsfeld und einen großen Bereich, der von beiden Augen gleichermaßen erfasst wird. (zum Vergleich: Fluchttiere, z. B. Gazellen, Hasen haben seitlich sitzende Augen mit "Rundumblick" und geringer Überschneidung). Verschwendung? Vielmehr gewinnen wir durch die zwei leicht verschobenen Abbilder zusätzliche Informationen: die parallaktische Verschiebung (Disparität) wird im Gehirn "verrechnet" zu einem Bild mit Tiefeninformation. Unser binokulares Sehfeld ermöglicht räumliches Sehen, allerdings nur auf kurze Distanzen (bis ca. 4m)

 

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Auf Grund unserer Erfahrung des räumlichen Sehens erkennen wir auch in zweidimensionalen Abbildungen den dreidimensionalen Raum.
links: wir schwanken zwischen zwei möglichen räumlichen Deutungen (Mouse-Over/-Click)
rechts: eine flächige Interpretationen wird ausgeschlossen. (Mouse-Over)

xxx wuerfel

Aber auch auf größere Distanzen können wir räumliche Gliederungen einschätzen. Mehrere Aspekte unserer Raumtiefe-Erfahrung kommen uns dabei zu Hilfe:

lineare Perspektive atmosphärische Perspektive

 

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Dinge, die uns nah sind, betreffen uns direkt: der Wolf, dem wir direkt gegenüber stehen, bedeutet Gefahr; der Wolf am Horizont ist eine "Hintergrundinformation". Die Differenzierung von Nähe und Ferne führt uns direkt zur Relevanz von Informationen.
Die Raumtiefe-Erfahrung ist für räumliche Darstellungen direkt anwendbar – bei weitem aber nicht nur dort. Auch für flächige, abstrahierte Gestaltungen sind die beobachteten Zusammenhänge hilfreich. Große, markante Formen in satten Farben werden als "nahe liegend", also wichtig interpretiert, wogegen kleine, eingetrübe Informationen "weit weg" sind und gern übersehen werden.
Die Blaufärbung der Ferne, ein Phänomen der Lichtbrechung in unserer Atmosphäre, schlägt sich in vielen bildgestalterischen Zusammenhängen nieder: kühle Farben vermitteln Tiefe, warme Farben wirken nah.

Beispiel für Tiefenwirkung durch atmosphärische Perspektive sowie Verdeckung (Mouse-Over)

xxx raumtiefe
 
 
 

Schwerkraft

 
 

Der Erfahrung der Schwerkraft können wir nicht entgehen – alles fällt nach unten. Wir lernen jedoch, den Dingen anzusehen, ob sie schnell oder langsam nach unten fallen werden, wir unterscheiden – oft nur nach dem visuellen Eindruck – Leichtigkeit von Schwere. In die Breite tendierende, geschlossene, ruhende Formen suggerieren Gewicht; aufrechte, differenzierte, bewegte Formen lassen Leichtigkeit vermuten.

 

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Unsere Erfahrung täuscht uns: sie "sieht" die Schwerkraft auch dort, wo sie nicht wirkt. Visuelle Gestaltung muss der Erwartung des "Abwärts-Trends" durch optisches Ausgleichen permanent entgegenwirken. Da die geometrisch exakte Mitte von uns tiefer empfunden wird, setzen wir sie etwas höher an; da waagerechte Formen massiver wirken als senkrechte, verschlanken wir sie usw.. Entscheidend ist die visuelle Wirkung, nicht die geometrisch exakte Konstruktion.

 

Gleichgewicht

 
 

Der Gleichgewichtssinn ermöglicht uns durch fortwährendes Ausbalancieren, uns entgegen der Schwerkraft aufrecht zu bewegen. Wir nehmen sehr sensibel Schankungen des Untergrundes oder Störungen unsrerer Orientierung wahr. Der Verlust der Balance wird als sehr bedrohlich empfunden.

 

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Wir erwarten auch in Abbildern die Balance, mit der wir uns durch die reale Welt bewegen. Damit ist nicht Stillstand oder Langeweile gemeint! Eine Darstellung, die visuell umkippt, wird als falsch empfunden, nicht als spannend. Hingegen wirkt ein Bild, das zwei unterschiedliche schwere Bildteile durch entsprechende Anordnung ausbalanciert, dynamisch. Das Ziel visueller Gestaltung ist eine spannungsvolle und ausgewogene Darstellung.


Diese Darstellung spielt bewußt mit unserem Bedürfnis nach Balance.
© Demian Conrad

Reizverarbeitung

 
 

Unsere Netzhaut verarbeitet Informationen tendenziell träger als sie eintreffen. Wir sehen z.B. Nachbilder, auch wenn der auslösende Reiz nicht mehr vorhanden ist. Abhängig von der Reizintensität und -dauer entstehen identische (positive) oder invertierte (negative) Nachbilder.

 

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Bewegtbildmedien machen sich die Trägheit der Signalverarbeitung im menschlichen Auge zu nutze, indem sie mittels Stroboskop-Effekt durch abfolgende Einzelbilder die Illusion kontinuierlicher Bewegung erzeugen. Unsere Wahrnehmung verbindet die Bilder zu flüssig erscheinenden Abläufen.
Üblich sind Frequenzen von 12 Bildern/Sekunde (Animation), 24 Bildern/Sekunde (Kino), 25 Frames/Sekunde (Video), ...

Phenakistiscope 1833 (Picture Disc by Thomas Mann Baynes)
    xxx ratte

 
 
 

Leserichtung

 
 

Unsere kulturelle Prägung durch die Leserichtung von links nach rechts schlägt sich auch auf unsere nicht-lesende Wahrnehmung nieder. Wir empfinden Bewegungen in Leserichtung als vorwärts gerichtet und in die entgegengesetzte Richtung als bremsend.

 

 

Steigung oder Gefälle? Für Schriftkundige in unserem Kulturkreis kein Zweifel.

 

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Mit dem bewussten Einsatz der Leserichtung und ihres Gegenstückes werden Bildwirkungen "mit oder gegen den Strom" erreicht. Zusammen mit der Schwerkrafterfahrung ergibt sich eine Wirkungs-Diagonale von Zuversicht bis Kapitulation: während links-oben platzierte Elemente beflügelt werden, zieht eine Positionierung rechts-unten hinab.


 

 

Wahrnehmungsgesetze